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Ordnung der Notfallseelsorge in Berlin

Vom 1. März 2002

(KABl.-EKiBB 2003 S. 17)

1.
Allgemeine Bestimmungen
1.1
Grundlage der Notfallseelsorge
Notfallseelsorge (NFS) ist seelsorgerliche Erste Hilfe für Menschen in Notfällen und Krisensituationen. Ihr Angebot gilt allen Menschen unabhängig von ihrer religiösen Bindung.
Sie geschieht im Geist ökumenischer Offenheit und versteht sich als Angebot für Opfer und Zeugen eines Unglücks, Angehörige und Einsatzkräfte.
Notfallseelsorge ist ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirche: In Situationen der Not und Bedürftigkeit möchte sie im Bewusstsein des Auftrages Jesu Christi, Leidenden nahe zu sein, den Betroffenen Beistand geben und sie in Krisenmomenten helfend begleiten.
1.2
Begriff und Leitsätze
Notfallseelsorge geschieht in kirchlicher Verantwortung. Sie arbeitet auf der Grundlage der Kasseler Thesen (als Anhang beigefügt).
„Notfallseelsorge“ ist ein gesetzlich geschützter Begriff.
1.3
Geltungsbereich
Diese Ordnung gilt für die Notfallseelsorge auf dem Gebiet des Landes Berlin.
2.
Aufgaben und Einsatzindikationen
2.1
Aufgaben
Zu den Aufgaben der Notfallseelsorge gehören:
  • Betreuung von verletzten, verunfallten und geschädigten Menschen und deren Angehörigen,
  • Begleitung von Einsatzkräften (zum Beispiel bei der Überbringung einer Todesnachricht),
  • Hilfe für Helfer und Helferinnen nach schwierigen und langwierigen Einsätzen,
  • Gebet, Segen und Sakramentenspendung.
2.2
Einsatzindikationen
Die NFS leistet Hilfe in Krisensituationen unter anderem in folgenden Fällen:
  • erfolglose Reanimation im häuslichen Bereich,
  • plötzlicher Kindstod,
  • sonstiger Todesfall im häuslichen Bereich,
  • Selbsttötung oder Selbsttötungsabsicht,
  • Überbringen der Todesnachricht,
  • Haus- und Wohnungsbrand, Explosion und entsprechende Eva­ku­ie­rungs­maß­nahmen,
  • Delikte am Menschen (Kindesmisshandlung, Vergewaltigung, Tötung),
  • Geiselnahme/Entführung,
  • gravierender Verkehrsunfall,
  • Fahrgastunfall,
  • Unfall im gewerblichen oder industriellen Bereich,
  • Großschadensereignis.
3.
Träger
Träger sind die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg und das Erzbistum Berlin (Katholische Kirche).
4.
Struktur
4.1
In der Notfallseelsorge Tätige
Notfallseelsorge wird grundsätzlich geleistet von Pfarrern/Pfarrerinnen beziehungsweise Priestern ihrer Kirche oder anderen von ihren Kirchen beauftragten Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen mit theologisch-pastoraler Ausbildung.
Sie haben entsprechend den Ordnungen ihrer Kirchen das Beichtgeheimnis zu wahren und sind an die seelsorgerliche Schweigepflicht gebunden. Pfarrer/Pfarrerinnen und Priester besitzen als Geistliche das Zeugnisverweigerungsrecht über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden ist.
Hinsichtlich des Zeug­nis­ver­weigerungsrechts stehen ihnen die von ihnen beauftragten Helferinnen und Helfer gleich. Über die Ausübung des Zeug­nis­ver­weigerungsrechts der Helferinnen und Helfer entscheiden die Pfarrer/Pfarrerinnen und Priester, die sie beauftragt haben, es sei denn, dass diese Entscheidung in absehbarer Zeit nicht herbeigeführt werden kann.
4.2
Koordinierung
Das Koordinierungsteam besteht aus der/dem Beauftragten für Notfallseelsorge in Berlin der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und der/dem Verantwortlichen des Erzbistums Berlin und arbeitet in ständigem gegenseitigen Austausch.
Das Koordinierungsteam trägt einvernehmlich Sorge für
  • die Einsatzfähigkeit der NFS in Berlin,
  • die Aus- und Fortbildung,
  • die Supervision,
  • die Verwaltung der NFS,
  • die Kooperation mit Partnern der NFS,
  • die Öffentlichkeitsarbeit.
Kann das Einvernehmen nicht hergestellt werden, werden das Leitungsteam (siehe 4.3) und die Träger in die Entscheidungsfindung einbezogen.
Das Koordinierungsteam erarbeitet den jährlichen Rechenschaftsbericht für die Träger.
4.3
Leitungsteam
Das Leitungsteam der Notfallseelsorge Berlin besteht aus bis zu zehn evangelischen und katholischen jeweils durch den Erzbischof beziehungsweise das Konsistorium beauftragten Seelsorgern/Seelsorgerinnen entsprechend den in 4.1 genannten Bestimmungen sowie dem Koordinierungsteam.
Das Leitungsteam arbeitet in kollegialer Verantwortung.
  • Es erarbeitet die Dienstpläne.
  • Es sorgt für die Qualitätssicherung.
  • Es hält den Kontakt zum Beirat und bereitet konzeptionelle Entscheidungen vor.
Die zum Leitungsteam gehörenden Seelsorger/Seelsorgerinnen befinden sich abwechselnd eine Woche lang in Rufbereitschaft („diensthabender Notfallseelsorger/diensthabende Notfallseelsorgerin“).
Sie sind auch über die Woche ihrer jeweiligen Rufbereitschaft hinaus bereit, ein Funktelefon zu tragen, um nach Möglichkeit schnell auf größere oder außergewöhnliche Ereignisse reagieren und den jeweils diensthabenden Notfallseelsorger/die jeweils diensthabende Notfallseelsorgerin unterstützen zu können.
Zu den Voraussetzungen für die Mitarbeit im Leitungsteam gehören:
  • mehrjährige Berufserfahrung,
  • Klinische Seelsorge-Ausbildung (KSA) oder vergleichbare Qualifikation,
  • Grundausbildung in NFS,
  • Teilnahme an einem Ersten-Hilfe-Kurs für Notfallsituationen in der Betreuung,
  • regelmäßige verbindliche Teilnahme an Fort- und Weiterbildung,
  • Einweisung in den Dienst,
  • Hospitation in den Behörden für Ordnung und Sicherheit (BOS),
  • Hospitation im Rettungsdienst und Katastrophenschutz,
  • Bereitschaft zur Supervision,
  • nach Möglichkeit die Ausbildung zum Leitenden Notfallseelsorger/zur Leitenden Notfallseelsorgerin.
4.4
Leitender Notfallseelsorger/Leitende Notfallseelsorgerin
Bei einem Großschadensereignis, bei dem mehrere Notfallseelsorger/Notfallseelsorgerinnen benötigt werden, übernimmt der diensthabende Notfallseelsorger/die diensthabende Notfallseelsorgerin zunächst die Aufgabe der Koordination für die NFS im Einsatz. In Absprache und mit Zustimmung des diensthabenden Notfallseelsorgers/der diensthabenden Notfallseelsorgerin kann diese Aufgabe dem Seelsorger/der Seelsorgerin der einsatzleitenden Organisation übergeben werden (zum Beispiel Feuerwehrseelsorger/Feuerwehrseelsorgerin oder Po­li­zei­seel­sor­ger/Polizeiseelsorgerin).
4.5
Örtliche Notfallseelsorger/Notfallseelsorgerinnen
Die örtlichen Notfallseelsorger/Notfallseelsorgerinnen erfüllen neben der in 4.1 genannten Bestimmung in der Regel folgende Voraussetzungen:
  • Grundausbildung in der Notfallseelsorge,
  • Teilnahme an Fort- und Weiterbildung (zum Beispiel in Psychologie und Traumatologie),
  • Teilnahme an einem Ersten-Hilfe-Kurs für Notfallsituationen,
  • Einweisung in den Dienst,
  • Kenntnisse in der Arbeitsweise von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst (zum Beispiel Hospitation),
  • Bereitschaft zur Supervision,
  • Bereitschaft zu einer zusätzlichen Seelsorgeausbildung (zum Beispiel Klinische Seel­sorge­ausbildung).
4.6
Notfallhelfer/Notfallhelferin
Der diensthabende Notfallseelsorger/die diensthabende Notfallseelsorgerin alarmiert bei Bedarf ehrenamtliche Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen als Notfallhelfer/Notfallhelferinnen, die über eine entsprechende Ausbildung verfügen.
5.
Beirat
Der Beirat berät und fördert das Leitungsteam in allen die NFS betreffenden Fragen, insbesondere
  • die Auswertung von Einsätzen,
  • Fortbildung,
  • Beratung des jährlichen Rechenschaftsberichtes.
Er gewährleistet den Informationsfluss zwischen der jeweiligen Organisation und der NFS.
Zum Beirat gehören neben den Mitgliedern des Koordinierungs- und des Leitungsteams jeweils ein Vertreter/eine Vertreterin der Träger sowie der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der Berliner Feuerwehr, der Berliner Polizei, des Bundesgrenzschutzes, der Verkehrsträger in Berlin, der Bundesanstalt des Technischen Hilfswerks sowie Fachleute aus dem Bereich Katastrophenschutz.
Die Mitarbeit weiterer Organisationen, beispielsweise der Rettungsdienste, ist möglich.
Das Koordinierungsteam lädt in der Regel zweimal im Jahr zu Beiratssitzungen ein.
6.
Arbeitsweise
6.1
Alarmierungsstruktur
Die Alarmierung erfolgt grundsätzlich über die den Leitstellen von Feuerwehr, Polizei, Rettungsdiensten und Verkehrsträgern bekannte zentrale Notfallseelsorge-Rufnummer.
Alarmiert wird
  • aufgrund der Lageeinschätzung der Einsatzkräfte von Feuerwehr, Polizei oder Rettungsdiensten vor Ort,
  • auf Wunsch von Betroffenen,
  • nach Alarmierungsstichwort.
Die Alarmierungsbereitschaft ist rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr durch den „diensthabenden Notfallseelsorger“/die „diensthabende Notfallseelsorgerin“ gewährleistet.
Die Anforderung wird durch den diensthabenden Notfallseelsorger/die diensthabende Notfallseelsorgerin nach dem Regionalprinzip an einen örtlichen Notfallseelsorger/eine örtliche Notfallseelsorgerin oder bei Bedarf an einen Notfallhelfer/eine Notfallhelferin weitergeleitet.
6.2
Arbeitsweise vor Ort
Der Notfallseelsorger/die Notfallseelsorgerin erfüllt seine/ihre Aufgabe in der Regel im Rahmen einer einmalige Begegnung. Sollte eine weitere seelsorgerliche Begleitung oder Einsatznachsorge erforderlich sein, stellt er/sie auf Wunsch die erforderlichen Kontakte her.
6.3
Dokumentation
Jeder Einsatz wird unter Wahrung der datenschutzrechtlichen Belange und der seelsorgerlichen Verschwiegenheit protokolliert.
6.4
Supervision
Zur Qualitätssicherung der NFS und zur Bearbeitung von belastenden Ereignissen wird für die in der NFS Tätigen Supervision angeboten.
7.
Kosten
Für die Alarmierenden und für die Betroffenen sind die Einsätze kostenfrei.
Die Notfallseelsorger/Notfallseelsorgerinnen arbeiten neben- oder ehrenamtlich.
Die für Koordinierung, Ausbildung, Supervision sowie Sachausgaben (Einsatz­kleidung, Handys, Fahrtkosten etc.) entstehenden Kosten werden von den Trägern in Zusammenarbeit mit anderen Partnern aufgebracht. Kosten für Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Supervision können von den Trägern entsprechend ihren Richtlinien bezuschusst werden.
8.
Zusammenarbeit mit anderen Partnern
Die NFS in Berlin arbeitet mit den Rettungsdienstorganisationen in Berlin und Brandenburg zusammen.
Die NFS in Berlin arbeitet in enger wechselseitiger Kooperation mit dem Projekt NFS/KIT im Land Brandenburg.
Eine Zusammenarbeit mit weiteren Partnern ist möglich.
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Anhang

Thesenreihe zur Notfallseelsorge

Notfallseelsorge ist „Erste Hilfe für die Seele“ in Notfällen und Krisensituationen.
Notfallseelsorge ist damit ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirche. Sie sieht den Menschen in Not und Bedürftigkeit, in Schwäche und Schuld als ein von Gott getragenes, geliebtes und auf Hoffnung hin versöhntes und erlöstes Geschöpf.
Notfallseelsorge wendet sich in ökumenischer Weite und Offenheit an primär Geschädigte, andere Betroffene und an Einsatzkräfte.
Seelsorge in Notfallsituationen nimmt ernst, dass bei den Menschen in existenziellen Extremsituationen die faktisch wirksamen religiösen und weltanschaulichen Prägungen offenbar werden. Notfallsituationen sind Schnittstellen des Lebens, an denen Sinn- und Wertfragen aufbrechen, der eigene Lebensentwurf und seine schlagartige Veränderung besonders bewusst werden, Schuld- und Theodizeefrage die Gegenwart überschatten und die Lebenskraft absorbieren.
Seelsorge für Einsatzkräfte in Extremlagen begleitet die Einsatzkräfte in ihrer Arbeit, vor allem bei einer besonderen Belastungssituation, die einhergeht mit Gefühlen von Versagen und Hilflosigkeit, Ohnmacht und gegebenenfalls Angst, und hilft im Anschluss an das Einsatzgeschehen belastende Eindrücke, die sich in die Seele eingebrannt haben, zu verarbeiten.
Die Arbeit der Notfallseelsorge geschieht im Wesentlichen durch Beziehung und Kommunikation, seelsorgerliches Gespräch und Präsenz des Seelsorgers/der Seelsorgerin vor Ort.
Konkrete Tätigkeiten des Notfallseelsorgers/der Notfallseelsorgerin vor Ort können sein:
  • Begleitung von unverletzten Beteiligten,
  • Begleitung von Verletzten während der Rettung und in Wartezeiten,
  • Begleitung von Angehörigen, die am Einsatzort sind oder dahin kommen,
  • Fürsorge für erschöpfte Einsatzkräfte,
  • auf Wunsch Spende der Sakramente und Gebet für Sterbende und Tote,
  • Überbringung von Todesnachrichten gemeinsam mit der Polizei.
10 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Notfallseelsorge professionalisieren ihre seelsorgerliche Kompetenz in extremen Arbeitsfeldern, um Einsatzkräfte an den Einsatzstellen unterstützen zu können beziehungsweise die seelsorgerliche Begleitung nach dem Abrücken der Einsatzkräfte weiterführen zu können, vor allem bei folgenden (häufigeren) Einsatzindika­tionen:
  • erfolglose Reanimation,
  • Tod von Kindern,
  • Suizidabsicht/Suizid,
  • schwere Verkehrsunfälle.
11 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Notfallseelsorge erwerben sich seelsorgerliche und theologische Kompetenz und insbesondere Kenntnisse und Fähigkeiten über
  • Reaktionsformen von Menschen in Not- und Extremsituationen und das mögliche Eingehen darauf,
  • Gefahren an der Einsatzstelle (Erkennbarkeit, Selbstschutz, Schutzausrüstung),
  • organisationsübergreifende Zusammenarbeit (Arbeitsweisen und Zusammenwirken von allen am Einsatz beteiligten Organisationseinheiten und die eigene Mitwirkung).
12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Notfallseelsorge halten engen Kontakt zueinander und reflektieren ihre Erfahrungen regelmäßig in Fortbildungen der Notfallseelsorge. 13 Für den Dienst ist Supervision unabdingbare Voraussetzung.
14 Die Notfallseelsorge entwickelt regional Strukturen, die mit den Gegebenheiten von Kommune und Kirche kompatibel sind.
15 Die beteiligten Kirchen sprechen geeignete Beauftragungen aus auf den Ebenen der Kirchenkreise, Dekanate und Landeskirchen, Bistümer und kommen für die Personalkosten auf.
16 Die Notfallseelsorger/innen organisieren sich auf Bundesebene in einem Konvent.
(Diese Thesenreihe wurde von Vertretern der Notfallseelsorgedienste aus verschiedenen Landeskirchen und Bistümern auf der Tagung der Bruderhilfe-Akademie für Verkehrssicherheit in Kassel am 5. Februar 1997 verabschiedet und beschreibt die gemeinsamen „Essentials“ der unterschiedlich organisierten und geprägten Notfallseelsorgedienste. Veröffentlicht in: „Notfallseelsorge“, Eine Handreichung: Grundlegendes – Modelle – Fortbildung – Erfahrungen. Sonderheft Texte + Materialien, Hrsg. Evangelisch-katholische Aktionsgemeinschaft für Verkehrssicherheit gemeinsam mit der Akademie Bruderhilfe – Familienfürsorge; Kassel, 2. Auflage 1999, S. 21 f.)